Warum Stress Führungskräfte stärker machen kann (und wann er sie schwächt)
- Dominique Giger
- 11. Okt.
- 4 Min. Lesezeit

Das Missverständnis Stress
Stress gilt in der modernen Arbeitswelt als Feindbild Nummer eins. Er wird verantwortlich gemacht für Burnout, Krankheitstage und sinkende Motivation. Ganze Industrien von Coaches, Trainern und Apps versprechen, Stress zu „besiegen“ oder „auszuschalten“. Doch diese Vorstellung ist ein fundamentaler Irrtum.
Stress ist kein Gegner. Stress ist ein Signal. Er ist tief in unserer Biologie verankert, unvermeidlich und wenn er richtig verstanden wird eine der kraftvollsten Ressourcen, die Führungskräften zur Verfügung stehen. Wer Stress nur bekämpfen will, beraubt sich einer entscheidenden Energiequelle. Wer ihn kanalisiert, kann Leistungsfähigkeit steigern, Resilienz aufbauen und sein Team stärken.
Stress: Vom Tiger zur Deadline
Die Wurzeln des Stresssystems liegen Millionen Jahre zurück. Als unsere Vorfahren im Gebüsch ein Raubtier entdeckten, mussten sie in Sekunden entscheiden: Kampf oder Flucht. Das sympathische Nervensystem setzte Adrenalin und Cortisol frei, Blut floss in die Muskeln, die Verdauung wurde gehemmt, Herzschlag und Atmung beschleunigten sich - ein perfekter Mechanismus zum Überleben.
Heute heisst der Tiger „Deadline“, „Investorengespräch“ oder „Kundenpräsentation“. Die physiologische Reaktion ist dieselbe: Herzklopfen, Anspannung, Fokus. Der Unterschied: Wir können nicht einfach weglaufen. Der Stress bleibt. Und genau das macht ihn gefährlich.
Eustress vs. Distress: Der schmale Grat
Die moderne Psychologie unterscheidet zwischen Eustress (positiver Stress) und Distress (negativer Stress).
Eustress steigert Motivation, Fokus und Leistungsfähigkeit. Er ist der Grund, warum Musiker:innen vor dem Konzert konzentriert auftreten, warum Manager:innen in Krisen über sich hinauswachsen und warum Sportler:innen Bestleistungen abrufen.
Distress entsteht, wenn Stress chronisch wird - wenn das Nervensystem dauerhaft auf „Gas“ steht, ohne die Bremse (Parasympathikus) zu aktivieren. Folgen: Schlafstörungen, Gereiztheit, Konzentrationsprobleme, gesundheitliche Risiken.
Die Grenze ist schmal. Entscheidend ist, ob wir dem Körper erlauben, nach Phasen der Anspannung auch wieder in die Regeneration zurückzukehren.
Zahlen, die aufrütteln
Laut WHO sind Stress und psychische Belastungen inzwischen die grösste Gesundheitsgefahr im Arbeitsleben des 21. Jahrhunderts.¹
Die Gallup-Studie 2023 zeigt: 44 % der weltweit Beschäftigten fühlen sich „täglich gestresst“.²
In Europa verursachen stressbedingte Krankheiten jährlich Kosten in Milliardenhöhe - allein in Deutschland schätzt das Bundesministerium für Arbeit die volkswirtschaftlichen Schäden auf über 20 Milliarden Euro pro Jahr.³
Stress ist also kein individuelles Problem, sondern ein makroökonomischer Faktor - und eine Führungsaufgabe.
Vier Stressoren, die Führungskräfte kennen müssen
Wissenschaftler:innen unterscheiden vier Hauptursachen für Stress:
Zeitstressoren - unrealistische Deadlines, permanente Erreichbarkeit, Arbeitsverdichtung.
Begegnungsstressoren - Konflikte, schwierige Kund:innen, angespannte Teamdynamiken.
Situative Stressoren - Unterbrechungen, Lärm, chaotische Prozesse.
Antizipationsstressoren - Sorgen vor der Zukunft: Märkte, Konkurrenz, persönliche Karriere.
Für Führungskräfte heisst das: Stressquellen im Unternehmen sind vielfältig und nicht immer steuerbar. Aber wer sie erkennt, kann bewusst reagieren.
Das Dilemma der Führungskräfte
Führungskräfte sind doppelt betroffen: Sie sind selbst hoch exponiert - und sie prägen die Stresskultur ihrer Teams.
Ein Beispiel: Eine Studie der Harvard Business School zeigt, dass das Verhalten von Vorgesetzten unmittelbar auf das Stressniveau ihrer Mitarbeitenden wirkt.⁴ Führungskräfte, die permanent in Eile wirken, senden unbewusst das Signal: „Nur wer immer im Alarmmodus ist, arbeitet hart genug.“
Die Folge: Mitarbeitende übernehmen diese Haltung - mit allen negativen Konsequenzen. Umgekehrt wirken Führungskräfte, die Pausen ernst nehmen, digital abschalten und klare Prioritäten setzen, als Schutzfaktor für ihr Team.
Praxisbeispiel: Wenn Stress zur Ressource wird
In meinen Lean-Management Projekten führten wir ein tägliches „Check-in“ ein: Jeden Morgen traf sich das Team für 15 Minuten. Jeder schilderte kurz, woran er arbeitet, wo es Engpässe gibt, wie er sich fühlt. Der Effekt war bemerkenswert: Überlastungen wurden früh sichtbar, Aufgaben konnten verteilt werden, die Kommunikation verbesserte sich, Emails konnten reduziert werden.
Die Produktivität stieg - nicht, weil der Stress verschwand, sondern weil er kanalisiert wurde. Das Team lernte, Stress entgegenzuwirken und gemeinsam Lösungen zu entwickeln.
Praktische Tools
4-7-8-Atmung: Eine Atemtechnik, die innerhalb von zwei Minuten Puls und Gedanken beruhigt. Vier Sekunden einatmen, sieben Sekunden halten, acht Sekunden ausatmen. Mehrere Zyklen wiederholen
Bodyscan: Eine Achtsamkeitsübung, bei der man den Körper von den Zehenspitzen bis zum Kopf gedanklich durchgeht und entspannt. Hilft, Gedankenkreisen zu stoppen
Resilienz-Routinen: Schlaf, Sonnenlicht, Bewegung, Pausen, Ernährung. Simpel, aber entscheidend für langfristige Leistungsfähigkeit
Digital Detox: Unterbrechungen reduzieren, klare Grenzen setzen (z. B. Handy ab 20 Uhr weg)
Diese Werkzeuge sind nicht nur für Mitarbeitende gedacht. Sie sind ebenso für Vorstände und Geschäftsführer:innen relevant.
Der kulturelle Hebel: Stress im Team managen
Führungskräfte können durch kleine, aber konsequente Massnahmen das Stresslevel im Team positiv beeinflussen:
Daily Check-ins: Sichtbarkeit von Aufgaben, Prioritäten und Emotionen
Aufgaben priorisieren: nicht alles ist gleich wichtig
Psychologische Sicherheit: Stress darf benannt werden, ohne dass es als Schwäche gilt
Diese Kulturveränderung ist kein „Nice to have“. Sie entscheidet über Innovationskraft, Mitarbeiterbindung und Wettbewerbsfähigkeit.
Stress ist ein Signal
Stress ist unvermeidlich. Doch er ist nicht per se negativ. Richtig verstanden und gesteuert, kann er zur treibenden Kraft für Spitzenleistungen werden.
Führungskräfte, die Stress nur bekämpfen wollen, verlieren. Führungskräfte, die Stress als Signal erkennen, ihn dosieren und kanalisieren, gewinnen - für sich selbst, für ihre Teams und für ihr Unternehmen.
Über die Autorin
Dominique Giger ist Keynote Speakerin, Beraterin und Coach für Unternehmen in den Bereichen Führung, Mindset und Transformation. Mit ihrem Purpose-Mapping-Ansatz unterstützt sie Unternehmer:Innen, Führungskräfte und Teams dabei, Sinn in den Arbeitsalltag zu übersetzen und High-Performance-Kulturen zu entwickeln.
Zur Podcast-Folge: „Warum Stress Dich stärker macht (und wann er Dich schwächt)“ – jetzt auf 🎧 YouTube: https://youtu.be/tM_KLSFyiaE
🎧 Apple Podcasts: https://podcasts.apple.com/us/podcast/folge-19-warum-stress-dich-st%C3%A4rker-macht-und-wann-er/id1801021329?i=1000724268670
Quellen
WHO (2020): Mental health in the workplace.
Gallup (2023): State of the Global Workplace.
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Stressreport Deutschland 2022.
Harvard Business Review (2018): „The Leader’s Role in Employee Stress.“







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